Aus genau solch einem Grund habe ich dieses Thema ja gestartet. Über den Tellerrand hinausschauen. Weitere Erfahrungen sammeln. Wenn wir im Wald frei laufenden Hunden begegnen, die beim Anblick meines freilaufenden Hundes angeleint werden, frage ich mich ständig: "Wieso? Lass doch." Im Wald kann man eine Diskussion, vor allem in Ruhe, vergessen.
Ich versuche nochmal dir einen anderen Blick auf die Dinge zu geben - vor allem in Bezug auf dein "Wieso? Lass doch." Dafür werde ich dir jetzt langwierig von mir und meinem Hund erzählen.
Ich habe Anfang meiner 20er begonnen mit Unterstützung von ein paar Seminaren Hunde zu sitten, nur so ein wenig neben Studium her. Dann begann ich recht schnell mich als Gassi-Geherin im Tierheim zu engagieren und meine ersten Pflegehunde (also die Sorte Hund, die ihr Zuhause verloren hat und bei mir lebte, bis sich neue Besitzer fanden) zogen bei mir ein. Ich habe Zoologie im Bachelor und "Mensch-Tier-Beziehung" im Master (ja, das gibt's
) studiert, meine Masterarbeit hatte so nebenbei die Beziehungsqualität von Hunden zum Thema. Zusätzlich dazu habe ich einen Unilehrgang namens "Angewandte Kynologie" belegt und bin ganz offiziell Akademisch geprüfte Kynologin. Ich habe mich mit Hundesitting selbstständig gemacht, meine Sitteragentur geleitet, und hatte nebenbei immer den ein oder anderen Pflegehund bei mir. Ich habe drei Tierschutz-Würfe bei mir aufgezogen, sprich Welpen die entweder wenige Tage alt oder bei mir geboren waren, bis zum Auszug mit 9+ Wochen. Ein Jahr arbeitete ich Vollzeit im lokalen Tierheim. Ich kann dir nicht sagen wieviele Sitterhunde ich hatte und ich kann dir auch nicht sagen wieviele Hunde im Tierheim irgendwie mal durch meine Hände gingen. Wir reden aber sicherlich von mehreren Hundert. Pflegehunde waren es 33. Dazu kommt, dass ich von 2011-2019 auch 3 (und ab 2014 waren es 4) eigene Hunde hatte - in diesen acht Jahren waren also immer so zwischen 4-8 Hunde (in Ausnahmefällen auch mal 10-12) bei mir im Haus. Zusätzlich dazu war ich 6 Jahre lang Rettunghundeführerin und habe 2 Hunde bis zur Einsatzfähigkeit trainiert und bin auch Einsätze gegangen. So zum Spaß haben wir noch hier und dort ein wenig Hundesport gemacht und selten aber doch das ein oder andere Turnier mitgenommen. Es gibt einige Bereiche in der Hundewelt, mit denen ich wenig Erfahrung habe und es gibt Menschen, die haben noch viel mehr Erfahrung als ich. Aber ich behaupte mal salopp im Verhältnis zum Otto-Normal-Hundehalter gehe ich als Profi durch und Gruppenhaltung und Vergesellschaftungen zählen zu meinen Expertisen
Loomie zog im Alter von zarten 6 Monaten hier ein. In diesem Alter hatte sie bereits 5x den Besitzer gewechselt und bevor sie zu mir kam brachte man sie zum Einschläfern zum Tierarzt, da sie von Geburt an taub ist und offenbar niemanden sie handeln konnte. Sie war zwar ein verrücktes Vieh mit vielen Baustellen, zeigte zu diesem Zeitpunkt aber ein wunderbares Sozialverhalten mit all meinen Hunden. Ist auch keine Überraschung beim 6 Monate alten Junghund. Das regelmäßige Zusammenleben mit neuen Hunden war zu diesem Zeitpunkt aber für alle meine Hunde Teil des Alltags. Es kam somit regelmäßig vor, dass Loomie neue Hunde kennenlernte. Sie durfte, wie all meine anderen Hunde auch, ihre Konflikte ausleben, spielen, mal doof sein, usw. Mit der Zeit und zunehmendem Heranwachsen kristallisierte sich aber ein Problem heraus. Der Erstkontakt mit fremden Hunden. Unabhängig davon, ob am eigenen Grundstück oder außerhalb davon - sie wurde zunehmend angespannter, immer provokativer und ging jeden sich anbahnenden Konflikt beinahe schon mit Freude ein. Gut ging es immer dann, wenn der andere Hund sozial und deeskalierend genug war, um ihre Allüren zu kompensieren. Und nun bemerkte ich das erste Mal, dass Loomies Taubheit für mich tatsächlich ein Problem darstellte. Ich bekomme die Frage zur Taubheit oft und muss sagen, dass ich diese sehr schnell im Alltag gar nicht mehr bemerkte. Aber in der schnelllebigen Sozialdynamik nicht mit Stimme einwirken zu können und zwar weder indem man mal mit lockerer Stimme eine Situation auflöst, noch indem man dem prollenden Jungspung mit einem "eh" zu verstehen gibt, dass es jetzt dann auch mal reicht, war ein gravierender Nachteil. Loomie ist ein äußerst reaktionsschneller Hund und sie ist rassespezifisch kein Hundewiesenpazifist - ergibt sich ein Konflikt, hat sie kein Problem damit, den auch mal anzunehmen
. Soziale Begegnungen wie sonst entspannt mal zu managen, wurde plötzlich schwierig. Es haben noch ein paar mehr Faktoren mitgespielt, aber im Nachhinein betrachtet, war die Taubheit sicher eines der größten Probleme für mich im Handling. Nachdem klar war, dass es so nicht weiter geht, habe ich begonnen vor allem die Erstkontakte zu Fremdhunden vorerst komplett einzustellen und dann sehr penibel zu kontrollieren. Wir haben mit ein wenig Trial und Error unseren Weg gefunden. Die Lösung war im Grunde der Situation "oh ein anderer Hund, wir laufen mal hin und stehen einander gegenüber" aus dem Weg zu gehen, bzw. sie erst sehr spät im Kennenlernprozess zuzulassen - maßgeblich dann, wenn sich die erste Aufregung bei Loomie sichtlich gelegt hatte, dann konnte sie da auch höflicher sein. Loomie hat im Laufe der Jahre wohl mit mehr Hunden zusammengelebt, als so manch anderer Hund in seinem Leben Spielpartner hat, sie läuft problemlos in verschiedensten Hundegruppen mit und heute dauert es vielleicht 1-3 Minuten an kontrollierter Begegnung, bis sie einen anderen Hund in ihrer Umgebung akzeptiert. Ist ein Hund mal akzeptiert, so passt das auch und ich mache mir auch in Konfliktsituationen keine Sorgen. Es gibt dazu auch ein hübsches Video, das zwar schon ein paar Jahre alt ist, das ich aber immer wieder gerne zeige
... das Hauptproblem war in aller erster Linie immer dieser direkte Erstkontakt. Man kann sich also vorstellen, dass ich vor allem damals, aber auch heute noch, eines überhaupt nicht leiden konnte. Ein Fremdhund, der am Spaziergang plötzlich unangeleint vor mir stand. Ich habe Glück - ich lebe am A**** der Welt und treffe wirklich selten Hunde beim Spazieren gehen. Und ich habe meist mehr als einen Hund dabei und kann im Falle des Falles mal einen anderen als Puffer voranschicken. Aber wenn ich in die Situation komme (und Loomie ist dabei), werden meine Hunde angeleint und wir halten genug Abstand, damit jeder enstpannt seiner Wege gehen kann. Heute wäre es vermutlich so, dass Loomie routiniert und gechillt genug ist, dass wir es mit Fremdhundebegnungen ohne Leine mal wieder probieren könnten. Ich sehe nur wenig Bedarf dafür
... hat das regelmäßige Anleinen meines Hundes ihrem Sozialverhalten nun geschadet? Nein - ich bin sogar davon überzeugt, dass wir wesentlich gravierendere Probleme bekommen hätten, hätte ich mich nicht ab irgendeinem Punkt für diesen Weg entschieden. Ich kann sogar noch von einem tollen Erlebnis berichten, das sich erst diesen Juni zugetragen hat. Ich war mit den Hunden am Stausee unterwegs - der Plan war mit dem Kajak zu fahren. Ich hatte uns eine nette kleine, gute abgegrenzte Bucht ausgesucht, so konnten sich die Hunde frei bewegen und ich in Ruhe das Boot bereitmachen. Plötzlich hörte ich ein kleines verzweifeltes Wuffen hinter mir. Ich drehte mich um und sah, dass sich ein fremder Hund zu uns gesellt hatte. Mia begrüßte den gerade, während Loomie unangeleint und von mir auch nicht an ein Kommando gebunden fest und auf Abstand auf ihrem Hintern saß und ständig von mir zu dem anderen Hund sah. Der Fremdhund machte sich dann auf den Weg in Richtung Loomie, ich stellte mich kurz dazwischen, schickte den Burschen weg und er verkrümelte sich (hoffentlich in Richtung seiner Besitzer
). Ich war selten sooooo stolz auf mein kleines Pittie, das diesen Rüden früher garantiert einfach mal verprügeln gegangen wäre, hätte sich diese günstige Möglichkeit ergeben. Sie hat über lange Zeit gelernt, dass sie sich der Situation aber gar nicht stellen muss, weil ich dafür sorge, dass Hunde nicht einfach zu ihr hinlaufen (das dürfen sie auch beim kontrollierten Kennenlernen nicht). Und als ich beschäftigt war, musste sie mich eben darauf aufmerksam machen
.
So... und warum erzähle ich dir das alles? Aus genau einem Grund: All das weißt du NICHT über mich, wenn ich dir nun auf einem Spaziergang begegne und meinen Hund anleine. In dieser Situation siehst du mich mit meinen 1,60m, die ich fast immer 5-10 Jahre jünger geschätzt werde, als ich bin. Du siehst also eine vermeintlich 25-30jährige mit einem Pitbull, die ihren Hund schnell anleint und dir aus dem Weg geht. Gemessen daran, wieviele Menschen (vorwiegend spannenderweise tatsächlich Männer mittleren Alters) mir schon in den diversesten Situationen ungefragt erklärt haben, wie das so funktioniert mit den Hunden und der Welt (ich zähle schon lange nicht mehr
), würde ich darum wetten, dass du nach drei Sekunden schon davon überzeugt bist, genau zu wissen, was mein Problem ist und was denn dafür die Lösung wäre
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Weißt du, ich verstehe den einen Gedanken von dir schon. Es gibt tatsächlich auch viele Leute, die ihre Hunde am Spaziergang anleinen und Kontakt verhindern, obwohl es nicht nötig wäre. Manchmal gehöre ich da sogar selbst dazu, weil ich gerade auf Spaziergängen nämlich auch mal ein kleiner Asi bin und in erster Linie meine Ruhe will. SmallTalk mit anderen Menschen, einfach nur weil die zufällig auch Hundehalter sind, ist nicht so zwangsläufig meins und je nach Laune verzichte ich da auch drauf (es hat einen Grund, warum ich lebe, wie ich lebe
). Und seien wir uns mal ehrlich - auch das ist mein gutes Recht
. Ich sehe das Problem allerdings nicht unbedingt in der Kontaktvermeidung, sondern denke, dass das Problem viel allgemeiner ist. Viele Hundehalter haben keine oder nur sehr wenig Ahnung von Hundeverhalten. Und selbst das was dann noch so an Hundewissen draußen kursiert und auch von Trainern verbreitet wird, ist teilweise so gruselig, dass man besser nicht zuviel darüber grübelt. Das führt auf der einen Seite dazu, dass manch einer glaubt sein Hund sei unverträglich, wo es aber gar nicht so ist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Menschen, deren Hunde besser mal angeleint würden, weil sie für andere Hunde tatsächlich Gefährdungspotential haben (und sei es nur, weil sie so körperbetont und rüpelig sind, sodass sie einen evtl. alten Hund sehr ungünstig über den Haufen rennen würden), wo die Menschen aber keine Sekunde daran denken ihren Hund irgendwie einzuschränken. Und ich sage dir ganz ehrlich. Ich bin schwer dafür, dass sich Wissen über Hundeverhalten verbreitet. Aber wenn ich mir aussuchen kann, ob jemand, der seinen Hund nicht adäquat einzuschätzen weiß, diesen eher einmal zuviel oder einmal zu wenig anleint, dann bevorzuge ich all jene, die ihre Hunde sofort an die Leine nehmen