9/11 - Sein Hund rettete einen Blinden aus dem Nordturm

Sein Hund rettete einen Blinden aus dem Nordturm

45 Minuten dauerte der Abstieg von der 78 Etage durch das Inferno. Roselle vergaß ihren Spieltrieb, behielt die Ruhe und rettete nicht nur ihr Herrchen.

Heldin auf vier Pfoten: Als der Nordturm sich nach dem Einschlag des Jets neigte, wachte Roselle auf.​



Als um ihn herum Möbel umstürzen und Deckenteile herunterfallen, denkt Michael Hingson zuerst an ein Erdbeben. Instinktiv stellt er sich in den Türrahmen seines Büros in der 78. Etage des Nordturms des New Yorker World Trade Centers. So hat er es in Katastrophenübungen gelernt. "Keine Panik", denkt er.

Michael Hingson kann das brennende Papier nicht sehen, das außerhalb der Fenster vorbeisegelt. Auch den Rauch und das Feuer sieht er nicht. Der 51-Jährige ist blind. Doch er spürt sofort, dass irgendetwas nicht stimmt. Draußen schlagen Trümmerteile mit dumpfen Geräuschen gegen die Fenster. Dann die panische Stimme seines Mitarbeiters David: "Wir müssen hier raus, sofort!"
Nur wenige Minuten vorher schien der 11. September noch ein Tag wie jeder andere zu sein. Michael Hingson saß an seinem Schreibtisch, um sich auf eine wichtige Präsentation vorzubereiten. Zu seinen Füßen döste sein Blindenhund Roselle. In dem Buch "Held auf vier Pfoten", das nun im Verlag SCM-Hänssler erscheint, beschreibt Hingson diese Minuten, die sein Leben verändern sollten:



"Vorsichtig ziehe ich meinen Fuß unter Roselles verschlafenem Kopf hervor. Gerade als ich aufstehe und mich zum Schrank mit den Büromaterialien umdrehe, um Papier zu holen, höre ich einen unglaublichen Knall. Es ist 8.46 Uhr. Das Gebäude bebt heftig. Dann fängt es an zu ächzen und sich langsam nach Südwesten zu neigen. Wie in Zeitlupe kippt die Spitze um etwa sechs Meter. (...) Noch einige Sekunden, und dann, fürchte ich, wird das Gebäude einstürzen und uns mit sich in die Tiefe reißen. Gott, bitte lass das Gebäude nicht umkippen, bete ich im Stillen. (...) Ich bin mir fast sicher, dass ich sterben werde. Da hört wie durch ein Wunder die Seitwärtsbewegung langsam auf, und das Gebäude beginnt sich wieder aufzurichten. Die ganze Szene hat etwa eine Minute gedauert. In dem Moment beschließt Roselle, ihr Nickerchen zu beenden. Sie kommt unter meinem Schreibtisch hervor und schaut sich um. Ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, was sie wohl denkt, aber ich trete aus dem Türrahmen und packe ihre Leine, damit wir auf keinen Fall getrennt werden, falls noch etwas passiert. Ich habe keine Ahnung, was gerade geschehen ist."
Mit der Schilderung des Einschlags der Boeing 767 vierzehn Etagen über Hingsons Büro beginnt in "Ein Held auf vier Pfoten" die unglaubliche Geschichte seines Überlebens. Mithilfe des Blindenhundes Roselle wird es ihm gelingen, aus dem brennenden Nordturm zu entkommen.



Doch es geht hier nicht nur ums Entkommen: Das Buch hat eine zweite Handlungsebene, und die ist nicht weniger fesselnd als Hingsons Flucht aus dem World Trade Center. Während er die Treppen des Wolkenkratzers hinuntersteigt, erinnert sich Hingson an sein außergewöhnliches Leben. "Für mich ist die eigentliche Geschichte nicht, wie ich aus dem World Trade Center hinauskam, sondern wie ich überhaupt dorthin kam", schreibt er.
Schon lange bevor ihn der Terrorangriff auf den Nordturm des World Trade Center vor seine größte Probe stellte, war Michael Hingsons Leben voller Herausforderungen. Im Alter von sechs Monaten wurde er für blind befunden, erhöhte Sauerstoffzufuhr in seinem Brutkasten hatte bei dem zu früh geborenen Kind die Netzhaut zerstört.
Wäre es nach dem Arzt gegangen, wäre er gleich in einem Blindenheim gelandet. Doch Michaels Eltern, die in Kalifornien lebten, glaubten an ihren Sohn und ließen ihn in die Grundschule gehen. Dort behauptete er sich hartnäckig gegen rücksichtslose Lehrer und Mitschüler und konnte bald schneller im Kopf rechnen als andere auf Papier. Er wurde zum Physikstudium zugelassen und erhielt einen Masterabschluss "summa cum laude".


Jeden Tag musste Hingson mit Hindernissen kämpfen
In der Berufswelt erlebte er, wie seine Bewerbungen aufgrund seiner Blindheit abgelehnt wurden. Dennoch wurde er ein erfolgreicher Verkäufer von IT-Produkten und stieg bis zum regionalen Vertriebsleiter mit Büro im World Trade Center auf. Nebenher lernte er schon als Kind zum Entsetzen der Nachbarn Fahrrad fahren und flog sogar einmal ein Flugzeug.

Jeden Tag musste Hingson mit den Hindernissen kämpfen, die ihm seine Blindheit und vor allem die Vorurteile anderer in den Weg stellten. Er überwand sie alle. Der 11. September 2001 ist keine Ausnahme, er ist lediglich der Höhepunkt der Serie von Herausforderungen in seinem Leben. Es ist also gar nicht überraschend, dass Michael Hingson so ruhig bleibt, während viele andere im Hochhaus in wilde Panik ausbrechen.
Die Ruhe seines Blindenhundes "Roselle" angesichts der kreischenden Menschen und umstürzenden Möbel ist dagegen schon etwas verwunderlich. Blindenhunde sind zwar gut ausgebildet, aber Grenzsituationen wie diese bringen eigentlich auch den stoischsten Hund aus der Fassung. Und "Roselle" ist bislang vor allem durch ihre Verspieltheit, ihren Hang zum Sockendiebstahl und ihr bärenartiges Schnarchen aufgefallen. Doch als Michael Hingson die Tür zum Treppenhaus öffnet, um 78 Etagen hinunterzusteigen, stellt sich "Roselle ruhig neben ihn und erwartet seinen Befehl.

Feuerwehrmänner kommen ihnen entgegen
"Voran", sagt Hingson. Das Treppenhaus ist heiß, und die Luft ist schwer von Kerosindämpfen. Viele andere fliehen mit Hingson nach unten, immer wieder werden verbrannte Körper an ihm vorbei nach unten getragen. Irgendwann kommen ihm die ersten Feuerwehrmänner entgegen. Sie bestehen darauf, dass er bleibt, wo er ist, und auf Hilfe wartet.
Hingson geht weiter. Er ist sich sicher, dass ihn Roselle aus dem brennenden Hochhaus führen wird, die Ruhe seines Hundes ist ansteckend. Doch das Vorankommen wird schwieriger: "In meinem Hals klebt der Gestank, der in der Luft hängt. Es ist, als hätte jemand meinen Rachen mit Benzin ausgegossen. Ich versuche, flach zu atmen. Dann höre ich die Stimme einer Frau. 'Ich bekomme keine Luft!', sagt sie. Sie ist stehen geblieben und klingt verängstigt. 'Ich glaube nicht, dass wir es nach draußen schaffen.' (...) Ohne Aufforderung stupst Roselle ihre Hand an. Sie will gestreichelt werden.


Ein Stupser von einem Labrador ist eher ein Knuff als ein Kitzeln, und die Frau kann ihn nicht ignorieren. Sie tätschelt Roselles Kopf, streichelt ihr weiches Fell. Roselle genießt die Pause und die Aufmerksamkeit und hechelt glücklich. Die Frau entspannt sich. Ihr Atem wird ruhiger, und sie lacht sogar ein bisschen. Roselles Zauber hat gewirkt. Die panische Frau holt tief Luft, streichelt Roselle noch ein letztes Mal, nimmt dann wieder ihren Platz in der Reihe ein und marschiert weiter nach unten. Auch ich hole tief Luft. Werden wir es wirklich schaffen?"
Während die Menschen im Treppenhaus immer ängstlicher werden, bleibt Hingson zuversichtlich. Er macht Witze und muntert die anderen auf. Als sein Mitarbeiter David zu weinen anfängt, sagt Hingson: "Wenn Roselle und ich die Treppe hinuntersteigen können, kannst du das auch." Der Abstieg dauert eine Dreiviertelstunde, doch Michael Hingson und Roselle kommen rechtzeitig aus dem Nordturm. Sie flüchten vor dem zusammenstürzenden Südturm durch die Straßen Manhattans, um sie herum schlagen Stahlteile auf die Erde. Bald ist der Rauch so dicht, dass niemand etwas sehen kann.


Roselle lief in den Garten und spielte
Hingson und Roselle macht das nichts aus, sie sind nicht auf ihre Augen angewiesen. Als sie eine Frau finden, die vom Staub geblendet ist, führen sie sie in Sicherheit. "Ohne Roselle wäre ich dem einstürzenden Südturm nicht entkommen", sagt Hingson im Gespräch mit "Welt Online". "Hätte ich nur einen Blindenstock gehabt, hätte ihn wohl längst jemand in dem Chaos kaputt getreten. Doch sie führte mich von der Gefahr weg." Als die beiden zu Hause ankommen, sind sie immer noch von Staub und Asche bedeckt. Roselle rennt sofort in den Garten, um zu spielen. Ganz so als wäre überhaupt nichts passiert.
Michael Hingson erlangte durch seine Geschichte landesweite Bekanntheit. Fernseh- und Radiosendungen luden ihn ein, auch als Redner war er gefragt. Irgendwann gab er seinen Job als Vertriebsleiter auf und tourte hauptberuflich um die Welt, um seine Geschichte zu erzählen. Auch Roselle wurde berühmt. Sie erhielt sogar den britischen PDSA-Preis, der als "Victoriakreuz für Hunde" gilt. Doch all die giftigen Substanzen, die Roselle am 11. September einatmete, hatten schlimme Folgen.

Ende Juni starb Roselle
Wenige Jahre später bekam sie eine Blutkrankheit, die auf die Einnahme von Giften zurückgeführt werden kann. Als ein Arzt Schäden an ihren Nieren bemerkte, schickte Hingson seinen Hund im Jahr 2007 in den Ruhestand. Ihr Zustand verbesserte sich, doch im Frühjahr 2011 brach die Krankheit wieder aus, Ende Juni starb Roselle. "Ich hatte viele Blindenhunde, aber Roselle war besonders", sagt Hingson. Er erhielt viele Briefe von Menschen, die ihren Tod bedauerten.
Auch ohne Roselle hält Michael Hingson weiter Vorträge, denn er hat eine Botschaft zu vermitteln: "Mein Buch handelt von Teamwork", sagt er. "Roselle und ich haben überlebt, weil wir zusammengearbeitet und einander vertraut haben. Wenn man das nicht tut, erreicht man nichts. Das gilt vor allem für die amerikanische Politik."
An den Ort seines Überlebens ist er mehrmals zurückgekehrt. Er erinnert sich noch genau an das erste Mal, im Mai 2002: "Ein Polizist lud mich ein, in die Grube zu gehen, aus der sie die Trümmer des World Trade Centers holten. Es war ein seltsames Gefühl. Dort, wo wir nur Monate vorher so viel erlebt hatten, war jetzt nur noch ein Loch."
Michael Hingson: Held auf vier Pfoten. Eine dramatische Rettung am 11. September. SCM Hänssler, 208 S., 18,95 Euro.

Quelle: welt.de
 
Da kommt man glatt mal wieder auf den Gedanken ein Buch zu lesen, dass nicht nur ausschließlich was mit dem Thema Hund zu tun hat.
Aber gerade diese funktionieren, auch in deren Verfilmung. Ich würde mich nicht wundern, wenn das ein Bestseller werden wird.
 
Um das mal wieder etwas hochzufahren.
Das Hörbuch in O-Ton (Englisch) ist mittlerweile "mein" und ich kann es wärmstens empfehlen.
 
Also mein Hörbuch kam seinerzeit direkt aus Chicago eingeflogen.
 



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